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Denk ich an Haltern…

by Peter Raffelt. Average Reading Time: about 3 minutes.

Ich kann nicht sagen, wann mir in den letzten Tagen das Gedicht wieder in den Sinn kam. Aber danach ging es mir, zumindestens der Anfang, nicht mehr aus dem Kopf. Nachtgedanken hat Heinrich Heine 1843 geschrieben und damit sowohl der politischen Ebene seines Exilaufenthaltes in Frankreich, als auch seiner privaten Sehnsucht nach der Mutter Ausdruck verliehen.

Meine Deutschlehrerin, Frau Proske, hatte uns mit Heine und Eichendorff, mit Goethe und Brecht zusammengebracht und uns damit zum Aufbruch bewegt. Heute – 30 Jahre nachdem ich meine Heimatstadt verlies – kann ich dies sagen. Mitte der 1980er Jahre hätte ich wahrscheinlich noch genervt reagiert, was wir denn noch alles lesen und lernen sollen oder so ähnlich.

Damals hieß das Joseph-König-Gymnasium noch Städtisches Gymnasium Haltern. Unser Schulleiter war ein anderer als heute. Die meisten Lehrer aus der damaligen Zeit sind heute nicht mehr im Dienst. Und trotzdem traf es mich wie der Blitz, als ich vergangene Woche die ersten Nachrichten zu den ums Leben gekommenen Schülern des Fluges 4U9525 der Germanwings von Barcelona nach Düsseldorf gelesen und die ersten Bilder meiner ehemaligen Schule in den Fotoagenturen sah.

Täglich sehe und bewerte ich tausende Bilder. Schöne und schlimme, erfreuliche und verletzende Fotos, denen allen gemeinsam ist, dass sie oft viele Kilometer entfernt entstanden sind und mit meinem privaten Leben wenig zu tun haben.

Ihre Umstände des Entstehens machen mich möglicherweise betroffen, sie berühren mich aber weniger, wie das Bild meiner eigenen Schule, mit Kerzen auf den Stufen davor, dass mir Tränen in die Augen trieb, da mir klar wurde, was diese Stufen den Schülern bedeuten, haben wir doch selber die meiste Pausenzeit dort verbracht – miteinander.

Haltern ist eine kleine Stadt, irgenwie hat hier jeder mit jedem was zu tun. Ich weiß nicht mehr genau, ob meine und die Mutter von Christoph Metzelder nun zusammen Karten gespielt, gekegelt oder im Kirchenchor gesungen haben. Auf jeden Fall hat er Recht, wenn er sagt: „In so einer kleinen Stadt gibt es für jeden Einwohner irgendwelche Querverbindungen zu einem der Opfer.“

Das ist die Angst, die mich seit den ersten Bildern nicht losläßt. Hat es jemanden, den ich kenne, getroffen? Je mehr Zeit vergeht, desto weniger erwarte ich eine solche Hiobsbotschaft, die Grösse Halterns hat zur Folge, dass man Relevantes schnell erfährt, auch wenn man in Berlin lebt.

Es bewegt mich aber auch, was gerade in dieser Stadt passiert, die sich gerne mit dem Zusatz am See bezeichnet und deren Landstrich zu Bergbau- und Stahlhütten-Zeiten als die Grüne Lunge des Ruhrgebietes bezeichnet wurde. Irgendwo zwischen Ruhrpott und westfälischer Mentalität leben die Menschen hier mit Sätzen wie „Wie geht’s?“ „Muss ja, und selbst?“ auf den Lippen. Bäuerlich pragmatisch nannte einer meiner Mitschüler das einmal.

Um so bewegender sind für mich die Äusserungen von Bürgermeister Bodo Klimpel und Schulleiter Ulrich Wessel, die beide deutlich machen, dass man diese Situation – den Verlust von 16 Schülerinnen und Schülern, sowie zweier Lehrerinnen – nur mit viel Kraft und offener Trauer ertragen und hoffentlich auch bewältigen kann. Gerade weil sie aus ihren Gefühlen keinen Hehl machten, haben sie meinen vollen Respekt.

Nach wie vor habe ich Freunde und Freundinnen in Haltern, die Verbindung ist stark, auch wenn schon mal ein Jahr zwischen unseren Begegnungen liegt. Sogar die Verbindung zur Schule besteht noch, einige meiner ehemaligen Klassenkameradinnen sind heute selber Lehrerinnen am Joseph-König-Gymnasium.

Ihnen, den Eltern, Familien, Freunden und Mitschülern wünsche ich viel Kraft für die kommende Zeit. Es wird kein einfacher Frühling für meine Heimatstadt, aber ich bin zuversichtlich. Heine hat mit seinen Zeilen den Tod zahlreicher Freunde und vor allem die Trennung von seiner Mutter durch das Exil verarbeitet.

Trotzdem endet er in Nachtgedanken zuversichtlich:

[…]

Gottlob! durch meine Fenster bricht

Französisch heitres Tageslicht;

[…]

Im Gegensatz zu Heine, der nur den Briefwechsel hatte, kann ich meine Mutter später anrufen. Und dann sprechen wir vielleicht darüber, wie sie den Tag in Haltern heute erlebt hat. Aber dazwischen werden wir auch schweigen, weil wir manches mit Worten nicht ausdrücken können.

 

 

 

 

3 comments on ‘Denk ich an Haltern…’

  1. Tamizhan sagt:

    Wundervolle Worte. Vieles, was Sie schreiben, kreisen auch so in meinem Kopf herum. Ich habe bisher aber keine passenden Worte dafür gefunden. Hier habe ich sie. Danke!

  2. Lutz Schmidt sagt:

    Lieber Peter, sehr bewegende Zeilen zu denen ich weiter gar nichts sagen kann und möchte. Fühle Dich einfach umarmt mein Freund. Liebe Grüße, Lutz

  3. Dazu auch lesenswert die Berichte meiner Kollegin Christine Kensche. Der aktuellste, der auch in der Welt am Sonntag erschien: Weitermachen, irgendwie (http://www.welt.de/print/wams/politik/article138885431/Weitermachen-irgendwie.html)

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